Kunstarchiv Graetz und Shaw

Zur Ausstellung in der „Galerie M“ (Berlin) 28. November 2004

Aufrichtigkeit war ein Wort, das René Graetz mochte; er hat es gern benutzt, wenn von Leben und von Kunst die Rede war. Vor allem Aufrichtigkeit wollte dieser Bildermacher in einem Kunstwerk spüren. Er, dem Schönheit der Farben Reichtum der Formen und Poesie alles bedeuteten, verachtete jenen oberflächlich-pathetischen Naturalismus, wie ihn der Funktionärsapparat in der DDR in den fünfziger, sechziger Jahren für seine Arbeiter-und Soldatenhelden und Mensch-im Glück-Bilder verlangte.


Graetz fesselte Anderes, Spannenderes: das Einfache, das so schwer zu machen ist, wie Brecht es einmal sagte: Das Menschliche, für den bildenden Künstler die menschliche Gestalt. Gerade dafür nannte der Schriftsteller Stephan Hermlin den 1964 in einer Berliner Tageszeitung wegen „westlicher Stiltendenzen“ gemaßregelten Bildhauer einen „der bedeutendsten deutschen Künstler“.


Und wie recht Hermlin doch hatte, wenn wir heute auf diese um das Thema Leben und Tod, Werden und Vergehen kreisenden Arbeiten blicken. Gaetz interessierten reale Dinge nicht von ihrem Abbild, sondern von ihren Ausdrucksmöglichkeiten her. Ihm ging es – gleich den Bildhauergefährten jener Jahre – Fritz Cremer, Waldemar Grzimek, Gustav Seitz – um das Phänomen des Daseins, der Existenz, der Bedeutung der Dinge, nicht um ihr idealisiertes, sprich, geschöntes, Erscheinungsbild.


Der Vorwurf des „unsozialistischen Formalismus'“, der Berufskollegen wie Seitz und Grzimek schließlich außer Landes trieb und Graetz seelisch zusetzte, war andererseits kein Grund, ihn nicht mit dem Nationalpreis zu ehren, schließlich schuf er Mahnmale für die Gedenkstätten der einstigen Konzentrationslager Sachsenhausen und Buchenwald. Graetz bekam den Preis, obwohl er formal nicht klein beigegeben hat, und sich nach wie vor an Picasso, Moore, Matisse und Guttuso orientierte.


Nein, das war es also wirklich nicht: Keine typische Künstlerlaufbahn made in Ostdeutschland war mit dem Leben und dem Werk René Graetz’s verbunden. Er kam als Kosmopolit in hiesige Gefilde, als einer, der die Kunst der europäischen Moderne kannte von Picasso über Giacometti bis Henry Moore, wie wie es in dieser Bildversammlung jetzt deutlich sehen können.

Das Spannungsfeld zwischen Figuration und Abstraktion hatte er bei diesen Künstlern intensiv erlebt; es war auch zu seinem Versuchsfeld geworden, auf dem er nach Ausdruck suchte, und wofür er Konventionen verließ. Und so sind seine Skulpturen, Plastiken und Bilder zwar figurativ aufgefasst, dem Kubistischen, auch ins Surreale Gehenden aber viel näher als dem Realen und der Abstraktion deutlich zugeneigt.
Letztere indes erinnert noch im letzten Durchbruch, in der ausgedünntesten, reduziertesten, gebrochendsten Linie noch die Anschauung des vormals Organischen. Kompaktes und zugleich Reduziertes prägt die Graetz’schen Formungen, egal ob in Steinguss, Bronze oder als farbiger Pastellkreide-oder Kohlestrich auf krudem Packpapier.


Mit seiner künstlerischen Klaviatur wollte er Mitgestalter einer friedlicheren, besseren, sozial gerechteren Welt sein – ein Dogma für die Kunst indes waren ihm fremd; mussten ihn befremden. Graetz hat, vor allem in der Kunst, das Internationale, das Multikulturelle ganz wie selbstverständlich gekannt, als man den Begriff noch nicht gebrauchte: Seine Mutter war Italienerin, der Vater entstammte einer deutsch-russischen Familie, zwar kam Graetz 1908, sechs Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, unterm Berliner Himmel zur Welt. Die Jugend indes erlebte er in der Schweiz, für die Bildende Kunst entschied er sich in Südafrika, ausgeübt hat er sie in Zürich, Paris und London, nach ihr verzehrt hat er sich im Internierungslager in Kanada.

In Paris hatte er Picasso, im englischen Exil den Bildhauer Henry Moore kennengelernt, beide Künstler haben ihn formal beeinflußt. In London wurde Graetz Mitglied der britischen Künstlerorganisation AIA, in London fand er seine Frau, Elisabeth Shaw, die einzigartige Zeichnerin. Mit ihr zusammen entschied er sich 1946 zur Reise nach Deutschland, zuerst lebte das Paar im Westteil der Stadt, dann zog es in den Berliner Osten, hierher waren so viele andere Emigranten zurückgekehrt, das machte soviel Hoffnung. Heute nun haben wir Patrick Graetz, dem Sohn, Erben, Sammler, Werkhüter der beiden Künstler, diese Ausstellung zu verdanken. Und der Rückblick wird auf einmal zu einem Stück jüngerer deutscher, europäischer Kunstgeschichte.


Wir schauen auf die sinnlichen Torsi, auf die impulsiv, fast expressiv auskragenden großen Zeichnungen, immer wieder mit den Gestaltzeichen des Phoenix und des Gestürzten, der aufsteigenden und der malträtierten Kreatur. Oder auf die Frau mit Vogel, mal körperlich ganz sinnlich, dann in kubistische Formungen getrieben, nahe der Sprache Picassos und Moores.


Die Quintessenz solcher Formexperimente war schließlich der „Gestürzte Krieger“, der sich in der Nationalgalerie befindet. Den Gips formte Graetz 1961 (dem Jahr des Mauerbaus), die Bronze 1968. Um diese Plastik herum widmete man dem Bildhauer erst 1978, vier Jahre nach seinem frühen Tod eine Retrospektive, die Nationalgalerie hatte -(auf Betreiben des Kurators Fritz Jacobi) Graetz’s Hauptwerk angekauft.
Eine Form musste für Graetz immer „innere Spannung“ haben, wie er sagte, deshalb gibt es in seinen Plastiken diesen heftigen Wechsel von spitziger und sinnlich runder Form, dann wieder von staksig auffahrenden, auch schweren, fast tragischen Gesten.


Zu einer Zeit, da ein streng naturalistisch aufgefaßter Realismus keine Abweichungen und Experimente zuließ, derartige „Experimente“ gern strafte und keinesfalls belohnte, musste einer wie er zum Außenseiter werden. Seine Bemühungen um Formverknappung bis zur Abstraktion waren also nichts für „Leute, die mit den Ohren gucken“, so der aus Italien in die DDR gekommene Realismo-Maler und Graetz-Freund Gabriele Mucci.


Und da Graetz auch seine Grafik gleichsam bildhauerisch komponierte, rückte sein Stil hier zwar nicht ganz so auffällig in den Blickpunkt wie bei den Plastiken. Doch monierte die dogmatischen Kritik seinerzeit auch hier die „formalistische“ Sprache, etwa in den intensiv farbigen Gouachen, die er „Sturmwelle“, „Schlafende und Phönix“ oder „Phönix und Gekreuzigter“ nannte.


Phoenix, jener sich im Feuer verjüngende Vogel der altägyptischen Sage, galt Graetz als Zeichen der Erneuerung. Ähnlich frei und gegen alle Begrenzungen wirken auch die steinernen „Upright Figures“ von 1971, aufrecht stehende sumpfgrün gefärbte Gestalten, deren Kanten und Hohlräume stecken voller innere Spannung und öffnen sich sanft der Abstraktion.


Seit Anfang der Siebziger signierte René Graetz mit „Nebbia“, dem Namen der Mutter, das war sein ganz persönliches Signal für Selbstbestimmung. Die Formalismus-Debatte hatte seine Haltung nicht verbiegen, die Reglementierungen, auch die Überwachungen ihn nicht am Arbeiten hindern können.