Kunstarchiv Graetz und Shaw

Ausstellungseröffnung in der Genossenschaft Bildender Künstler Berlin am 21. Januar 1964

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

während René Graetz auf einem Frachtschiff voller Autobusse über den Ozean in Richtung Kuba schaukelt , sind wir dabei, zum zweitenmal binnen kurzem eine Graetz – Ausstellung aus der Taufe zu heben. Diese Ausstellung setzt eine unlängst begonnene Reihe fort, die Ausdruck einer deutlichen Intensivierung unseres kulturellen Lebens ist. Erst kürzlich zeigte gar nicht weit von hier ein junger Künstler, Horst Zickelbein, zu welcher Emotionalität die Farbe, das ureigenste Mittel des Malers, erblühen kann. Hier in diesem Raum finden wir Werke eines älteren, im Leben erfahreneren Künstlers, der aber doch mit Zickelbein jugendliche Entdeckerfreude, die Unermüdlichkeit des Suchens gemein hat. Sie alle kennen René Graetz und wissen, daß die Vielseitigkeit seiner Interessen – nämlich an plastischen Bilden, am Zeichnen und Malen -, die Vielfalt der Anregungen, denen er in der Folge oder gleichzeitig nachspürt, die Raschheit seiner Begeisterungsfähigkeit mit all ihren starken Seiten und natürlich auch all ihren Gefahren keine angelernter Werte der Oberfläche sind, sondern sich auch aus Temperament und Charakter des Künstlers herleiten, diese aber wiederum in einem nicht alltäglichen Leben geformt wurden. Geboren wurde Graetz in Berlin, aber hier nur deshalb, weil seine Eltern auf der Reise von Polen her Zwischenstation machten. Seine Kindheit verbrachte er in Paris und vor allem in der Schweiz, jenem Land, das in seiner Dreisprachigkeit wie eine Drehscheibe zwischen den benachbarten Kulturen Frankreichs, Italiens und Deutschlands wirkt. Die Jünglings- und frühen Mannesjahre, zugleich auch die Zeit der Kupferdruckerlehre, der Beschäftigung mit der Malerei und dann mit der Plastik, sahen ihn für ein Jahrzehnt in Kapstadt in der Südafrikanischen Union, dann in England und im kanadischen Internierungslager, also im dritten Erdteil, zu dem er jetzt wieder unterwegs ist. Mit all dem und natürlich auch mit seinem nun schon langjährigen Aufenthalt in Deutschland hat ihn das Leben nicht nur mehrere Sprachen gelehrt, sondern auch jene Empfänglichkeit für die verschiedenen Sprachen der Kunst, die nun in diesem Raume hier nebeneinander klingen. Doch wie in seiner Wortsprache der französische Akzent dominiert, so ist René Graetz wohl auch als Künstler letzten Endes in der Kultur Frankreichs beheimatet. Mißverstehen Sie bitte diese Bemerkung nicht als Vorwurf. Frankreich ist die Wiege der modernen Bildkunst, die Wiege sage ich, das heißt, daß die gehfähigen und gehwilligen Kinder durchaus in die verschiedensten Richtungen auseinanderstreben konnten. Aber von Frankreich haben sie fast alle gelernt und dabei trotzdem zu sich selber gefunden: die großen Mexikaner, Guttuso, Ciucurrencu in Rumänien, die Muchina in der Sowjetunion und auch Max Liebermann und sogar Ernst Barlach. Frankreich hat sie angezogen und umgeformt: van Gogh und Modigliani, Lingner und Chagall, Archipenko und Brancusi. 

Was aber für diese Namen gebilligt wird, das kann in seinen schöpferischen Dimensionen zugegebener Maßen begrenzteren Künstler wie René Graetz nicht an sich Anlaß des Tadels sein, eher der Zustimmung, denn schließlich leben wir in einer Zeit, da die Länder zusammenrücken, künstlerische Selbstgenügsamkeit anachronistisch ist, die vorwärtsgewandten Strömungen mehr denn je einander befruchten und das Bild der Kunst auf diese Weise abwechslungsreich und anregungsstark wird. Erst kürzlich konnte man aus einer der wenigen öffentlichen Reaktionen, die es auf die Graetz-Ausstellung im Club der Kulturschaffenden gegeben hat, einen solchen Tadel heraushören in Gestalt eines Hinweises auf die Vorbildhaftigkeit Pablo Picassos. Gewiß, auch ich glaube, daß Picasso mehr als irgendein anderer Graetz´ Vorbild ist, mehr als Marino Marini, dessen Einfluß in mancher Plastik sichtbar wird, mehr als der italienische realismo, der Graetz auf seiner Italienreise begeisterte und ihn in den folgenden Jahren zu schönen Mutter-Kind-Porträts inspirierte, mehr auch als Fernand Léger. Doch tut man René Graetz unrecht, wenn man meinen sollte, er würde unschöpferisch arbeiten. Nicht zufälliges, launisches Nachamen-Wollen, sondern innere gesetzmäßige Affinitäten im Weltanschaulich – Sozialen und im Nationalen scheinen mir die wirklichen Ursachen des erwähnten Verhältnisses zu sein. Im Weltanschaulich – Sozialen ist die kommunistisch-humanistische Haltung Graetz und seinem Vorbild gemeinsam, eine Haltung, die kämpferischen Abscheu vor den Gewalten der mörderischen Klassengesellschaft und zarte, scheue Hoffnung auf das immer und überall zu verteidigende Menschliche am Menschen und an der Menschheit in sich birgt. Im Nationalen ist es die Tatsache, daß die von dem Spanier vorformulierte Auseinandersetzung mit der französischen Kunst für den Deutschen akzeptabel ist, weil der Zusammenprall der kulturellen Grundstrukturen, nämlich jeweils einer Kunst der Leidenschaften mit der vom lateinischen Erbe her zu Klarheit und Rationalität neigenden französischen Kultur ähnlich ist. Von diesen Grundlagen aus scheint mir die Kunst von Graetz in ihrem Wesen und ihren Abhängigkeiten am besten deutbar zu sein. Der Abscheu vor Ausbeutung, Unterdrückung, faschistischem Mord und vor der Gefahr eines alles vernichtenden Krieges verbindet sich mit dem national-stilistischem Hang zum Ausdrucksstarken, Formübersteigerten und gebiert eine expressiv-surreale Kunst, die mit Symbolen des Chaos und des Aufschreis, mit Untieren und gespenstischen Nachtvögeln, Gekreuzigten, Stürzenden und Gekrümmten und mit Formen splittriger, spitziger und stachliger Konfigurationen arbeitet. Die Achtung vor dem gewordenen Menschen und die Hoffnung auf das Werden in einer klassenlosen, friedlichen Welt, die Lust zu Leben – und das heißt für den bildenden Künstler vor allem zu sehen – finden dagegen in der jahrhundertealten unexpressiven Kunsttradition Frankreichs ihr stilistisches Vorbild. Von hier dürften sich der klassizierende, linear betonte, kurvige Zeichenstil, die Großheit und Würde vieler Formen erklären, Dinge, die manche Zeichnung hier im Raume und auch die vorgestern im „Neuen Deutschland“ veröffentlichte Lithographie auszeichnen. Die idealistische Verträumtheit mancher Figuren, die Symbole des Glücks und des Triumphes haben wohl hier ihre Wurzeln: Lichtträger und Sonnen, die das Böse niederzwingen, der Phönix, der sich immer wieder aus der Asche erhebt, Mutter- und Kind-Gruppen, Frauen, die sich zum Rund zusammenrollen und so zu Zeichen des Absoluten und Ewigen werden, einfachste Gegenstände wie etwa eine Leiter, die vielleicht über manches Hindernis hinweghelfen möchte, Blätterkränze oder selbst gegenstandsfreie Klänge von Formen und Farben, die aber bei Graetz nichts anderes sind als bei Léger, nämlich optimistische Bejahungen der sinnlich existierenden Welt, lustvolles Betätigen der menschlichen Wesenskraft Sehen.Den bei Picasso wie bei Graetz bestehenden Dualismus der genannten Seiten, der expressiven und der klassizierenden, den der soziologische Schematismus nicht als eine Sicht der widersprüchlichen Welt erklären kann und deshalb in eine bürgerlich-dekadente und eine sozialistisch-realistische, eine negative und eine positive Hälfte auseinanderreißen muss, diesen Dualismus werden Sie auch in dieser Ausstellung immer wieder finden, sei es in den Lithographien, den großzügigen Entwürfen für Keramikwände oder Vorhänge, den interessanten Skizzen oder den mit hoher Farbkultur und 

meist auch mit feinem Formensinn dekorierten Tellern und Vasen, die alle zeigen, auf wie vielfältige Weise sich modernes sozialistisches Lebensgefühl ausdrücken läßt. Es kann nicht meine Aufgabe sein, Ihr Urteil darüber vorwegzunehmen, ob René Graetz nun in jedem Einzelfalle das skizzierte Streben zum Erfolg führt und ob Sie der einen oder der anderen Art den Vorzug geben oder gar jenen neusten Werken, in denen sich eine Synthese anzukündigen scheint. So schenkt das farbige Blatt „Sturm an der Küste“ seine Expressivität einem Alltagsvorfall, bei dem der Wind Mäntel aus bizarren Gebilden zaust. Ein solches Blatt zeigt, auf welchem Wege René Graetz sein Auge anschauungskräftig halten kann, etwas, was wohl wir alle dem Künstler nach dieser erfreulichen Ausstellung vom ganzen Herzen wünschen.